Gedächtnis

Wie funktioniert das Gedächtnis im Gehirn? Wie zuverlässig ist sind die Erinnerungen und unter welchen Bedingungen erinnert sich das Gehirn besonders gut?

Unter Gedächtnis versteht man die Speicherfähigkeit des Gehirns, die sich in der Fähigkeit äußert, früher Aufgenommenes oder Gelerntes abzurufen. Da das Gedächtnis erst über die Erinnerungsleistung sichtbar wird, muss man zumindest zwischen Wiedererkennen und Reproduzieren unterscheiden, wobei die Leistungen beim Wiedererkennen fast immer besser sind als beim Reproduzieren. Aus neurokognitiver Sicht erfolgt die Speicherung in verschiedenen Teilen der Nervennetzwerke. Dabei kennt man sehr verschiedene Formen von Informationsspeicherung. Die wichtigsten Arten des Gedächtnisses sind deklaraties „Wissen“ und implizites „Können“.

Im Folgenden werden wir hauptsächlich über deklaratives Gedächtnis nachdenken. Über das deklarative Gedächtnis gibt es später ein eigenes vertiefendes Kapitel. Einige grundlegenden Eigenschaften wollen wir jedoch bereits hier erwähnenh. So verwendet das deklarative Gedächtnis zum Einspeichern und für den Abruf die Hippocampusformation, der über die Codes für die Speicherorte verfügt (s.u.).

Gehirnteile mit lernfähigen Synapsen

Das Gehirn besitzt an vielen Stellen lernfähige Synapsen Im Kleinhirn (motorisches Lernen), in den Basalkernen (Lernen von Bewegungsroutinen) und im Mandelkern (emotionales Lernen) wird impliztites „Können“ gespeichert. In der Grosshirnrinde wird mit Hilfe der Hippocampusformation deklaratives Wissen verankert.

Sogenanntes Ultra-Kurzzeitgedächtnis

Da sich die Erregungsprozesse an den Nervenzellen bei einer Wahrnehmung erst im Laufe der Zeit über verschiedene Netzwerkteile ausbreiten, kann eine kurzzeitige Wahrnehmung, zum Beispiel, bei einem kurzen Blick über die Schulter, einen ersten Eindruck (siehe Wahrnehmung) hinterlassen, der wenigstens einige Zehntelsekunden vorhält. Hier spricht man von einem Ultra-Kurzzeitgedächtnis. Diese Form des Gedächtnisses, die auf gerade noch wirksame Sinneserregung zurückzuführen ist, kann wichtige Effekte erzielen, die man als „Vorwärm-Effekte“ (Priming) bezeichnet.

Langzeitgedächtnis

Ein erster Eindruck auf Grund kurzzeitiger Informationsaufnahme kann jedoch täuschen und er wird in der Regel durch eine längerdauernde Betrachtung ergänzt und korrigiert. Eine solche „normale“ Betrachtung kann bei längerer Dauer bereits zu einer vertieften Speicherung führen, die auch noch nach längerer Zeit erinnert werden kann (siehe auch Lernen). Hier spricht man vom Langzeitgedächtnis. Allerdings benötigt die vertiefte Speicherung, die sogenannte Konsolidierung, relativ viel Zeit, je nach Inhalt und Ablenkung Minuten bis Stunden. Gute Lernleistungen werden zum Beispiel gefunden, wenn man während der Dauer der Konsolidierung schläft. Das Ergebnis der Konsolidierung besteht darin, dass der Lerninhalt, zum Beispiel eine Liste von anatomischen Fachbegriffen, in den Schaltstellen solcher Nervennetzwerke zu überdauernden Veränderungen führen, die bei Bearbeitung des Themas gebraucht werden. Im Beispiel der Anatomiebegriffe sind das Netzwerke, die mit dem Wissen über lateinische Vokabeln zu tun haben, oder solche, die über Informationen zu Aussehen, Lage und Funktion der entsprechenden Organe verfügen.

In Abhängigkeit von Vertiefung und der zur Verfügung stehenden Konsolidierungszeit gibt es für den Abruf aus dem Langzeitgedächtnis höchst unterschiedliche Formen von Qualität und Dauer (s. Forschungsliteratur).

Gedächtnis, Spicherorte auf der Grosshirnrinde

Speicherorte auf der Großhirnrinde. Ansicht der Großhirnrinde (Cortex) von schräg hinten. Die Netzwerke, die Seh-, Hör- oder Bewegungsinformationen verarbeiten, können derartige Informationen auch speichern. Kombinierte und abstraktere Informationen werden in den dazwischen liegenden Assoziationsarealen gespeichert.

Da die Langzeitspeicherung von Information in den Kontaktstellen innerhalb der Nervennetzwerke stattfindet, erfolgt der Abruf meistens dadurch, dass bestimmte Netzwerkteile bei der Verarbeitung ankommender Impulse besonders reagieren. Erregende Impulse können von Reizen aus der Umwelt oder von inneren Vorstellungen stammen. Die im Zuge der Informationsverarbeitung erregten Netzwerkteile können als interne „Repräsentation“ der Umweltreize, als Echo im Gedächtnis beim Wiedererkennen oder eben als Erinnerung aufgefasst werden (siehe auch Denken braucht Zeit). In diesen Fällen spricht man ganz allgemein vom Kurzzeitgedächtnis.

Da Langzeit-gespeicherte Informationen, wie erwähnt, in verschiedenen Teilen des Großhirns „verteilt“ abgelegt werden, werden bereits beim Einspeichern interne Codes für die Speicherorte („das war doch damals in Griechenland“) in einem speziellen Hirnteil, dem Hippocampus, aufbewahrt. Beim Abruf hilft dann der Hippocampus, geeignete Informationen auf Grund einzelner Codes wieder zu aktivieren (s. Forschungsliteratur).Berühmt wurde der Patient H.M., an dessen Hippocampusformation eine Operation vorgenommen wurde. Für ihn war an jedem Tag alles neu und aufregend. Allerdings fragte er z.B. täglich seine Pflegerin nach ihren Namen. Sie können über diesen Patienten ein Video ansehen, das Sie im Kapitel über das deklarative Gedächtnis finden.

Sie können sich hier eine Audio-Datei mit vertiefenden Informationen über Besonderheiten des Gedächtnisabrufs anhören:

 

Kurzzeitige Gedächtnisaktivierungen

Informationen, die mit gewohnten Handlungen verknüpft sind, gelten als bedeutsam, zum Beispiel wenn sie Familie oder Beruf betreffen. Handlungsrelevante und insofern bedeutsame Inhalte erzeugen stets eine relativ hohe Intensität und längere Dauer der Erregung, zum Beispiel mehrere Zehntelsekunden. Diese erstreckt sich über Teile des Gehirns, in denen Wissen gespeichert ist, ebenso wie über motorische Areale. Handlungsrelevante Erregungsprozesse werden als Tätigkeit des momentan verwendeten Arbeitsspeichers interpretiert (siehe auch Kapitel Bewusstsein). In der Neurokognition sind derartige Erregungsprozesse von besonderem Interesse. Sie können zum Beispiel auch im Hirnscanner sichtbar gemacht werden.

Obwohl wir nur vielleicht 80 Milliarden Nervenzellen besitzen, ist unser Gedächtnisspeicher grenzenlos groß. Warum ist das so? Wissen und Erfahrungen sind im Gehirn verteilt gespeichert. Das heißt, selbst wenn ein Teil des Speichers verloren geht, ist vorhandenes Wissen und Können nicht völlig weg. Es hat sich höchstens geringfügig „eingetrübt“. Ähnliches geschieht, wenn etwas neu Gelerntes auf bereits besetzte Gedächtnisorte übergreift.

Sie können sich eine Audio-Datei mit vertiefenden Informationen zu den neuralen Mechanismen beim Merken und Einprägen anhören:


 
Sie haben eben gehört, dass beim Einprägen der Kontext eine große Rolle spielt, also in welchem Zusammenhang etwas gemerkt werden soll. Auch beim Abruf spielt der Kontext selbstverständlich eine große Rolle. In einem Video über das EEG im Kapitel „Denken braucht Zeit“ wird erklärt, wie der Gedächtniskontext beim Lernen und beim Abruf in unseren Netzwerken aktiviert wird. Im Video über das ACC (im Kapitel „Entscheiden“) finden Sie ein kleines Demonstrationsexperiment, in dem ein irreführender Kontext sogar bereits in einer ganz alltäglichen Aufgabe den Gedächtnisabruf erschwert.

Tipp für ein besseres Erinnern

Man kann immer noch dazulernen. Altes Wissen bleibt, wird aber zu einem kleinen Teil überschrieben, also verdrängt, korrigiert oder verstärkt. Nie kommt alles ins Gedächtnis, was beim Lernen aufgenommen wird. Daher ist es zu erwarten, dass beim Abruf stets assoziierte Informationen gewissermaßen automatisch ergänzt werden. Eine geduldige Beschäftigung, am besten mit Pausen, verbessert das Merken. Je schlechter und unkonzentrierter eingespeichert wurde, desto phantasievoller ist unwillkürlich der Abruf. Trauen Sie nie ihrem Gedächtnis, es sei denn Sie können ihre Erinnerung durch weiteres, konkretes und dazu passendes Wissen erhärten!

Buchempfehlungen zur Vertiefung einzelner Themen

buch2_klugheit
Mehr über den Nutzen, sich zu erinnern und die Funktionsweise des Hippocampus.

 

buch1_warum_ich_weiss
Mehr über das Gedächtnis im sozialen Bereich
und die funktionellen Gliederung der Wissen-speichernden Großhirnrinde.

 

buch4_Gedächtnis_Alter
Über die Rolle des Gedächtnis für die Leistungsfähigkeit des Gehirns im Alter.

 

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