Wie kommt es dazu, dass man in der Wahrnehmung und beim Denken oft Dinge in Verbindung bringt, die kaum etwas miteinander zu tun haben?
Wieso erkennt man eigentlich Gegenstände, obwohl man sie kaum sieht?
Und wie kommt das Gehirn dazu, Vermutungen über Sachverhalte anzustellen, über die es kaum etwas weiß?
Sie sehen das Bild eines jungen Mannes und erfahren, dass er Raucher ist. Glauben Sie, dass dieser Mann imstande sein könnte, spontan mit dem Rauchen aufzuhören, wenn ihn seine Freundin ernsthaft darum bittet? Sagen Sie jetzt nicht, dass so eine Zuschreibung verrückt ist. Ähnliche Zuschreibungen geschehen tagtäglich, wenn eine neue Naturheilmethode ausprobiert wird oder ein Börsenguru aus dem Kaffeesatz liest. Das Beispiel mit dem Raucher stammt übrigens aus einer psychologischen Untersuchung, wo die Teilnehmer gebeten wurden, auf jeden Fall eine Antwort zu geben, um zu sehen, welches Hirnteil an einem solchen Urteil besonders beteiligt ist. Erfahren Sie mehr dazu in einem Video über die „Theory of Mind“.
Ein in der Hirnforschung bedeutsamer Aspekt betrifft die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf einzelne Detais oder auch auf das Zusammenspiel vieler Gegebenheiten zu richten. Das Hirnareal, das dabei eine zentrale Rolle spielt, ist der Gyrus supramarginalis (s. Kapitel Sensomotorik). Im Grunde ist diese Fähigkeit eine grundlegende Eigenschaft jeder Netzwerkstruktur.
Daher sollten wir uns zunächst klarmachen, wie Nervennetzwerke überhaupt auf Grund von Einzelmerkmalen einen Sachverhalt identifizieren. Das Grundprinzip kann man aus dem einfachen Beispiel in der folgenden Abbildung ersehen.
Wie Netzwerke arbeiten
Die vier Objekte der oberen Reihe erscheinen einzeln in wechselnder Reihenfolge auf einem Bildschirm. Sie sollen möglichst rasch erkannt werden. Das Modell geht davon aus, dass Erkennung bereits auf Grund von zwei Merkmalspaaren (untere Reihe) erfolgen kann. Ein dazu passendes Video über Netzwerkaktivitäten finden Sie im Kapitel Denken braucht Zeit.
In dem in der Abbildung dargestellten Modell wird davon ausgegangen, dass bereits einfache Merkmale wie Form oder Farbe imstande sind, Assoziationen zu einzelnen Sachverhalten und damit Speicherorten herzustellen, die weit voneinander entfernt sind. Dem ersten Anschein nach haben ein Fußball und ein Apfel nichts Gemeinsames. Dennoch sind beide rund. Das mag belanglos sein, kann aber unter bestimmten Umständen bedeutungsvoll werden, etwa wenn Kinder nach einem Spiel suchen und schließlich beginnen, mit Äpfeln zu kicken.
Durch Lernen können ungewöhnliche Merkmalskombinationen einem neuen Inhalt zugeordnet werden. Damit sich das Neugelernte in den passenden Gedächtnisorten verankern kann, muss die Aktiität (die „Temperatur“) an diesen Orten erhöht werden. Dies geschieht z.B. mit Hilfe der Hippocampus-Formation (s. Kapitel Das deklarative Gedächtnis) sowie die Informationen über das EEG in einem Video im Kapitel Denken braucht Zeit. Insofern lernt das Gehirn teilweise nach anderen Prinzipien, als sie bei KI und in künstlichen. lernenden Netzwerken üblich sind.
Gestaltwahrnehmuung durch synchronisierte Impulse
Mit diesem Modell kann man jedoch nicht gut erklären, warum zum Beispiel ein Gegenstand vollständig erkannt werden kann, obwohl er nur zur Hälfte sichtbar ist. Allerdings lassen sich derartige Ergänzungsleistungen durch andere Mechanismen erklären. Man geht davon aus, dass verschiedene Eigenschaften eines Gegenstandes, also zum Beispiel seine Form oder seine Farbe, seine Größe und seine Verwendbarkeit, in unterschiedlichen Teilen des Gehirns gespeichert sind.
Damit der Gegenstand dennoch für die Informationsverarbeitung verfügbar ist, geht man davon aus, dass funktionelle Verbindungen (in Form zeitlich synchronisierter Impulse) zwischen den entsprechenden Gedächtnisorten existieren. Diese Verbindungen wurden während des Merkvorgangs hergestellt (siehe dazu das Beispiel des Bauchredners im Kapitel zur Wahrnehmung). Wenn ein bestimmter Teil der Eigenschaften durch eine Wahrnehmung oder einen Gedanken aktiviert wird, so bewirken die genannten funktionellen Verbindungen ein Aktivwerden aller Eigenschaften, die den Gegenstand repräsentieren und somit eine Erinnerung ermöglichen. Sehen Sie dazu ein Video über Netzwerkaktivitäten im Kapitel „Denken braucht Zeit“.
Summarisches Denken
Ein drittes Modell – gewissermaßen eine Kombination aus den beiden, bisher erwähnten Modellen – wird benötigt, um zu erklären, wie Beobachtetes verallgemeinert oder Unvollständiges ohne weitere Erfahrung ergänzt wird. Angenommen, Sie sehen das Foto eines Menschen, den Sie nicht kennen. Auf Grund vieler Details des Aussehens und der Kleidung können Sie Mutmaßungen über Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft und vielleicht sogar über den Beruf anstellen. Man nennt das auch summarisches Denken. Hier dürfte die Grundlage für den Aufbau von Erwartungen und für Schlussfolgerungen liegen, die weil-dann-Aussagen zulassen (siehe auch Kapitel Denken). Ein vergleichbarer Mechanismus erlaubt das Weiterdenken einer beobachteten Bewegung. Dieser sehr elementare Vorgang des Weiterdenkens eines zeitlich ausgedehnten Vorgangs dürfte die Grundlage des Ursache-Wirkungs-Denkens sein. Wenn ein Wurfgeschoss eine bestimmte Bahn entlangfliegt, so kann dessen Ziel bis zu einem gewissen Grad vorhergesehen werden. Umgekehrt schreiben wir Wirkungen, sofern zeitliche Abläufe erkennbar sind, Ursachen zu, die in der Regel in der Vergangenheit liegen. Stets aber handelt es sich aber nur um Mutmaßungen oder Annahme, da eine direkte Beobachtung fehlt.
Spezialthema: Die Netzwerke der Großhirnrinde
Ein Video über die Entwicklung und Reifung der corticalen Netzwerke finden sie im Kapitel Anatomie und Entwicklung.
Tipps zum Umgang mit Logik und Ursachenzuschreibungen
Logisches Denken folgt lange bewährten Regeln. Dabei muss berücksichtigt werden, dass logisches Denken meist nur unter strengen Randbedingungen zu zutreffenden Ergebnissen führt. Es sind gewissermaßen häufig anwendbare Sonderfälle von Denkweisen, die durch die Informationsverarbeitungs-Mechanismen des Gehirns möglich sind. Darüber hinaus lässt unsere Informationsverarbeitung neben den logischen Schlüssen auch Schlussfolgerungen zu, die zwar nach den Gesetzen der Logik nicht zwingend, dennoch plausibel erscheinen. Inwieweit man solchen Schlüssen folgen soll, ergibt sich in der Regel aus der Berücksichtigung von sozialem Feedback.
In völlig analoger Weise ist das Denken in Ursachen und Wirkungen biologisch vorgegeben, vor allem, wenn es sich um die Verkettung von Ereignissen in zeitlicher Abfolge geht. Aber auch für Annahmen zu Ursachen und Wirkungen gilt, dass dazu letztlich das soziale Feedback zu berücksichtigen ist.
Buchempfehlungen zur Vertiefung einzelner Themen
Lesen Sie mehr darüber, warum man bestimmte Dinge als Ursachen oder Gründe ansieht und warum das manchmal nicht stimmt. Erfahren Sie Genaueres über den Mechanismus des summarischen Denkens!
Lesen Sie, wie man auch ohne die Berücksichtigung logischer Gesetze vernünftig denken kann.